In der Reihe „Gut beraten!“ stellen wir landesgeförderte Angebote für Fachkräfte der Schulsozialarbeit vor. Dieses Mal geht es um das Thema Kinderschutz. Im Interview erzählt Hans Leitner (Leiter der Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg), was die Fachstelle macht, was Schulsozialarbeiter*innen von einer Krisenberatung erwarten können und welche gesellschaftlichen Fragen zum Kinderschutz durch die Corona-Pandemie aufgeworfen werden.

 

Was macht die Fachstelle Kinderschutz?

Hans Leitner: „Grundsätzlich haben wir zwei Angebote für die Jugendämter und deren Partner*innen: zum einen das Praxisbegleitsystem speziell für die Jugendämter und zum anderen die Krisenberatung. Beim Praxisbegleitsystem spielt u. a. das Thema Schnittstelle Jugendhilfe – Schule eine Rolle. Hier sind wir sehr eng mit den Jugendämtern im Gespräch, betreiben Konzeptentwicklung, nehmen Fallberatung vor, besprechen Verfahrensabläufe und so weiter. Im weitesten Sinne landet bei uns alles, was im Jugendamt zum Kinderschutz aufploppt und wo Rat und Unterstützung benötigt wird. Die Jugendämter „wünschen“ sich Themen und wir sorgen ggf. für einen fachlichen Input bzw. eine entsprechende Begleitung. Dann rücken unsere Expert*innen an. Das sind mein Kollege Johannes Reime oder ich und darüber hinaus ein Expert*innenpool von ca. 30 Fachkräften, die zu bestimmten Themen eine außerordentliche Expertise besitzen. Unser zweites Angebot ist die Krisenberatung. Also Jugendämter und andere Akteure z. B. aus  Schulen oder der Schulsozialarbeit, haben jederzeit die Möglichkeit, die Fachstelle anzurufen oder anzuschreiben, wenn sie eine Frage im Bereich Kinderschutz haben. Das können rechtliche Fragen sein, inhaltliche Fragen oder auch Selbstversicherungsfragen, wie zum Beispiel: ‚Wir haben da was beobachtet, sind unsicher, können Sie uns bei der Einordnung behilflich sein?‘. Manchmal ist man auch auf der Suche nach notwendigen Kooperationspartner*innn oder geeigneten Angeboten.“

 

Was können Schulsozialarbeiter*innen von einer Krisenberatung erwarten?

Hans Leitner: „Wir verstehen unsere Rolle so, dass wir orientierende Fragen stellen und Hinweise geben, damit das Gegenüber selbst eine gute Lösung finden kann. Und wenn es erforderlich ist, können wir auch an kompetente Stellen vermitteln und dies sowohl in juristischer wie fachlicher Hinsicht, da die Fachstelle Kinderschutz nicht nur im Land Brandenburg bestens vernetzt ist. Wir sind aber im eigentlichen Sinne keine klassische Beratungsstelle, das heißt wir begleiten in der Regel nicht Prozesse z. B. mit drei bis fünf Beratungen. Aber wenn bei uns jemand anruft und Rat zu einer Kinderschutzfrage sucht, ist man bei uns immer richtig. So arbeiten wir nach dem Grundsatz: Jede*r bekommt mindestens eine kompetente Beratung und bei Bedarf eine verbindliche Weitervermittlung. Für uns gibt es kein: Wir sind nicht zuständig! Letztendlich hatte die Fachstelle auch noch nie eine Anfrage, bei der sie nicht wirklich weiterhelfen konnte. Auch wenn wir keine fertige Antwort haben, können wir über unser Netzwerk immer entsprechend direkt vermitteln.“

 

Welche Fragen können Fachkräfte der Schulsozialarbeit im Rahmen der Krisenberatung platzieren?

Hans Leitner: „Die Anfragen, die kommen, sind wirklich vielseitig. Sie beziehen sich in der Regel auf einen konkreten Fall und ergeben sich aus dem individuellen Arbeitsalltag der Fachkräfte. Manchmal geht es dabei um Einschätzungsfragen: ‚Wir haben hier einen Fall und bräuchten mal Ihre Expertise zur Einordnung. Wie schätzen Sie das ein? Ist das eine Gefährdung mit unmittelbarem Schutzbedarf oder reicht Hilfe und Unterstützung oder ist da vielleicht gar nichts?‘ Dann kommen auch Kooperationsfragen, wie zum Beispiel ‚Die Schule schätzt das anders ein als wir. Was nun?‘. Also Rat und Orientierung im Umgang mit Dissens gegenüber der Schule. Genauso taucht aber auch dieses Thema ‚Dissens mit dem Jugendamt‘ auf, wenn beispielsweise das Jugendamt nicht so reagiert, wie die Schulsozialarbeit sich das vorstellt und nun die Frage steht, ob das so hinzunehmen ist oder man weiter in der Verantwortung ist. Manchmal ist es aber auch eine ganz pragmatische Frage: ‚Wir wissen eigentlich, was los ist, aber wir wissen nicht, an wen wir uns wenden können.‘ Manchmal werden auch gemeinsam Möglichkeiten der Reaktion erörtert. Ich frage dann zum Beispiel: ‚Haben Sie schon an Das oder Jenes gedacht oder kennen Sie dieses spezielle Angebot?‘. Weiterhin gibt es auch Fragen zu speziellen Themen, so zum Umgang mit sexuellen Übergriffen unter Schüler*innen oder zu datenschutzrechtlichen Fragen.“

 

Wer gehört zu ihren Netzwerkpartner*innen bzw. Expert*innenpool?

Hans Leitner: „Die Fachstelle hat einen Expertenpool mit etwa 30 Fachberatungsstellen oder Fachkräften mit außerordentlicher Expertise zu bestimmten Themen. Der Expert*innenpool ist auf unserer Website auch öffentlich einsehbar. Mit diesen Expert*innen sind wir regelmäßig im Gespräch und im Austausch und können dadurch auch leichter vermitteln. Darunter sind unter anderem Expert*innen und Beratungsstellen zu den Themen Frühförderung, Suchtberatung, Gesundheitsberatung, sexualisierter Gewalt, Erziehungs- und Familienberatung, psychische Erkrankung sowie frühe Hilfen. Wir haben in unserem Expert*innenpool aber auch Rechtsanwälte und Juristen. Einmal hatten wir einen Fall, da haben wir direkt ans Familiengericht verwiesen für eine familienrechtliche Frage. Außerdem haben wir bei medizinischen Fragen gute Kontakte zu Kliniken.“

 

Wo können sich Fachkräfte noch zum Kinderschutz informieren?

Hans Leitner: „Wir haben auf unserer Website Fachstelle Kinderschutz viele Publikationen veröffentlicht, die Fachkräfte dabei unterstützen sollen, Handlungssicherheit in Kinderschutzfragen zu gewinnen. Beispielsweise ist aktuell unser Brandenburger Leitfaden Früherkennung von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der 8. Auflage erschienen. Das ist ein kleines ‚Kooperationskompendium‘. Ursprünglich für Kinderärztinnen und Kinderärzte gedacht, kommen mit jeder Auflage auch Kooperationsthemen mehr und mehr zur Sprache. Außerdem haben wir das Kommunikationsmedium Kinderschutz info aktuell. Immer wenn uns ein Thema mehrmals in der Praxis begegnet und wir denken, das könnte ein strukturelles sein, veröffentlichten wir eine Ausgabe dazu. Ein weiteres Format sind die Leitlinien für eine qualifizierte Kinderschutzarbeit. Darin geht es darum, was eine Fachkraft im Handeln leiten sollte, wenn sie sich um ein Kind Sorgen macht. Wir haben 42 Leitlinien für Fachkräfte identifiziert, die wir in dieser handlichen Broschüre zusammengefasst haben. Um einen kleinen Beitrag zur Verbesserung der Kooperation zu schaffen, haben wir auch ein interdisziplinäres Wörterbuch erarbeitet, da z. B. in Schule und Jugendhilfe oft unterschiedliche Begriffe verwendet werden und immer mal wieder einer (Er)Klärung bedürfen. Außerdem gibt es noch einen Newsletter, verschiedene Checklisten und viele andere Arbeitsmaterialien, die man downloaden kann.“

 

Hat sich die Arbeitsweise der Fachstelle mit Beginn der Corona-Pandemie verändert?

Hans Leitner: „Im Rahmen des Praxisbegleitsystems können wir seit April 2020 kaum Präsenztermine im Jugendamt anbieten und machen jetzt viel telefonisch und online, um das „Regelgeschäft“ mit den Jugendämtern weiter aufrecht erhalten zu können. Ich denke, das ist uns ganz gut gelungen, es gab keinen Einbruch was die Inanspruchnahme unserer Angebote anging. Wirklich deutlich zugenommen haben im letzten Jahr die Zahlen der Krisenberatung. Wenn Fachkräfte zum Beispiel das Gefühl haben, sie sind eher auf sich allein gestellt oder die Kommunikation in den Ämtern und Trägern ist eingeschränkt, dann sucht man natürlich Stellen, wo man schnell Unterstützung bekommt. Wir hatten ca. 180 Krisenberatungen im Jahr 2019 und im Jahr 2020 sind es 250 gewesen. Das ist schon eine deutliche Zunahme. Inhaltlich haben die Anfragen jedoch nichts explizit mit Corona zu tun. Es geht um Fälle, die auch ohne Corona passieren. Die Themen haben sich nicht geändert, eher hat der Beratungsaufwand zugenommen, da wir erheblich mehr Anfragen bekommen.“

 

Wirkt sich Corona auf das Grundverständnis von Kinderschutz aus?

Hans Leitner: „Die Statistiken zeigen, dass mit Eintritt der Pandemie im April letzten Jahres die Kinderschutzmeldungen z. B. der Schulen akut zurückgegangen sind. Das macht uns große Sorge. Und ich sage: rein logisch hätten sie in der ersten Phase der Pandemie deutlich nach oben gehen müssen, nach dem Motto: ‚Wir kommen nicht mehr ran an ‚unsere Sorgenkinder‘, bitte, Jugendämter, ihr müsst euch kümmern.‘ Das soll kein Vorwurf sein, sondern einfach eine Feststellung und gleichzeitig auch eine grundsätzliche Frage: Wie geht Schule damit um, wenn sie plötzlich nicht mehr an die Kinder rankommt? Gilt Kinderschutz nur dann, wenn ich das Kind in Präsenz vor mir habe oder anders endet mein Kinderschutzauftrag, wenn ich aus dem Alltäglichen mit den Kindern raus bin? Die grundsätzliche Frage aber ist, was es für ein Grundverständnis für den Kinderschutz an Schule und in der Gesellschaft allgemein gibt. Ich finde die Corona-Pandemie hat im Grunde auch dazu geführt, dass man sich gewisse Fragen nochmal neu stellen muss, wie zum Beispiel: Ist die klassische Form der Unterrichtung die, die für alle Kinder gut ist? Oder hat sich möglicherweise in der Pandemie auch gezeigt, dass einige Kinder von dieser Distanz auch profitieren, weil sie nicht mehr im Mittelpunkt stehen, weil sie individueller gefördert werden oder weil der Tagesablauf für sie vielleicht angemessener ist? Und konkret auf den Kinderschutz - diese Frage stellte sich aus meiner Sicht auch schon vor der Pandemie: Wer ist für den Kinderschutz zuständig? Nach Artikel 6 im Grundgesetz, ist es die staatliche Gemeinschaft. Aber wer genau ist die staatliche Gemeinschaft bzw. wer versteht sich als diese und wer handelt als solche?“

 

Was bedeutet das für die Kooperation von Schulsozialarbeit und Schule in der Pandemie?

Hans Leitner: „Ich glaube, die Arbeit der Schulsozialarbeit an den Schulen ist während der Pandemie sehr auf die Ebene der Fallarbeit gegangen. Gruppenangebote gibt’s nicht, man kann keine offenen Beratungsangebote mehr unterbreiten. Sondern man muss den ‚Sorgenkindern‘ auch ein Stück weit hinterhergehen, sie (auf)suchen. Das gelingt über Sozialarbeit an Schule nach meiner Wahrnehmung sehr gut und ist auch die einzige Chance, wirklich an den jungen Menschen dranzubleiben. Jedoch vermisse ich eine Landesstrategie, was die Zusammenarbeit von Schule und Schulsozialarbeit angeht. Aus der Praxis wissen wir, dass die Schnittstelle zwischen Schule und Sozialarbeit an Schule bzw. Jugendamt sehr unterschiedlich ausgestaltet wird. Ich denke, da ist auch die Landesebene gefordert, Mindeststandards für die weitere Zusammenarbeit von Schulsozialarbeit und Schulen zu formulieren, wie zum Beispiel verbindliche Formen regelmäßiger Fallberatung oder zur gegenseitigen Kooperation und Information im Kinderschutzverfahren. “

 

Wie sind Sie zum Kinderschutz gekommen?

Hans Leitner: „Ich habe eine Flachbaggerlizenz. (lacht) Also Flachbagger heißt Planierraupe. Ich habe damals eine Ausbildung im Straßenbau mit Abitur gemacht. Dann habe ich mich nochmal neu orientiert, wurde Heimerzieher / Unterstufenlehrer für Musik und war 10 Jahre in der Heimerziehung tätig. Danach habe ich an der Humboldt-Universität Diplom-Pädagogik studiert. Ich war damals zu DDR-Zeiten im größten Kinderheim der Republik mit über 300 Kindern tätig, zuletzt auch als stellvertrender Direktor der Einrichtung. Somit hat mich das Thema Kinderschutz schon lange begleitet. 1991 bin ich dann ins Beratungsgeschäft umgestiegen und die Großprojekte, die wir umgesetzt haben, hatten auch immer etwas mit Kinderschutz zu tun und mit der Frage, wie man Kinder angemessen schützen kann. Zum Beispiel haben wir ein Projekt zur Entwicklung der Angebotsstrukturen im Bereich der Hilfen zur Erziehung nach der Wende durchgeführt oder ein Projekt zur ‚Hilfeplanung als Prozessgestaltung‘, wo es um mögliche und notwendige Interventionen ging, wenn die Hilfeplanung nicht ausreicht, um das Kindeswohl zu sichern. Außerdem gab es ein sechsjähriges Modellprojekt zur ‚Qualitätsentwicklung im ASD‘. Nach und nach wurde das Thema Kinderschutz auch von der Politik stärker in den Fokus genommen. Und so wurde die Fachstelle Kinderschutz 2006 auf der Grundlage eines Landtagsbeschlusses ins Leben gerufen, welche seither durch der Start gGmbH gemanagt wird. Nun bin ich schon seit über 30 Jahren im Beratungsgeschäft im Land Brandenburg unterwegs. Seit 1995 bin ich Geschäftsführer und seit 2006 auch Leiter der Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg. Und in diesem Jahr feiern wir das 15-jährige Jubiläum dieser Fachstelle.“

 

Wie können Schulsozialarbeiter*innen Kontakt zu Ihnen aufnehmen?

Hier sind meine Kontaktdaten:

Hans Leitner

Leiter der Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg

Diplom-Pädagoge, Erzieher

Telefon: 03302 - 8609577

E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Web: www.fachstelle-kinderschutz.de

Newsletter-Anmeldung

Sie möchten unseren Newsletter abonnieren? Dann einfach hier für die LSJ-Post anmelden und keine Ausgabe verpassen:

Hiermit stimme ich den Datenschutzbestimmungen zu.

Wir nutzen ausschließlich essenzielle Cookies auf unserer Webseite.”